Viele Menschen beklagen ihr Leben lang ihre „Schwächen“ und versuchen diese zu beseitigen. Das gelingt ihnen meist nicht – unter anderem, weil sich hinter vielen so genannten Schwächen in Wahrheit Stärken verbergen. Viel sinnvoller ist es, unsere Talente zu entfalten und die starke Seite unserer Schwächen zu nutzen.
„Ich bin zu perfektionistisch.“ „Ich kann mich nicht durchsetzen.“ „Ich werde schnell ungeduldig.“
Solche Aussagen hören Trainer, Berater und Coaches oft, wenn sie ihre Teilnehmer fragen, warum diese mit bestimmten Aufgaben und Situationen Probleme haben. So detailliert listen sie dann ihre vermeintlichen Schwächen auf, dass man fast den Eindruck gewinnen könnte: Dieser Mensch hat mehr „Schwächen“ als „Stärken“. Dabei findet man in einem persönlichen Gespräch mit der jeweiligen Person schnell heraus, dass sie in ihrem bisherigen beruflichen Leben schon viele Herausforderungen gemeistert hat. Woran liegt es dann, dass wir uns oft intensiver auf unsere Schwächen konzentrieren als auf unsere Stärken?
Vieles, was wir gut machen, erachten wir als selbstverständlich. So erfüllt es zum Beispiel manch guten Texter nicht mit Stolz, dass er gut schreiben kann. Das ist schließlich sein Job. Und viele exzellente Zuhörer sind keineswegs stolz darauf, dass sie gut zuhören können.
Bei genauerem Betrachten der so genannten Schwächen zeigt sich: Es sind oft gar keine Schwächen, sondern übertrieben ausgeprägte Stärken. So arbeitet zum Beispiel eine Person, die „zur Pedanterie neigt“, stets sehr ordentlich und gewissenhaft. Das heißt: Sie arbeitet strukturiert und prüft regelmäßig, ob sie keine Fehler gemacht hat. Zur Schwäche wird so ein Verhalten erst,
So verhält es sich bei fast allen „Schwächen“. Sie sind zumeist übertrieben ausgeprägte Stärken. Aus hoher Eigeninitiative kann zum Beispiel schnell mangelnde Teamfähigkeit werden. Und Vorsicht kann zu mangelnder Entschlusskraft führen. Jedoch nur, wenn die betreffende Person eine Aufgabe wahrnimmt, bei der diese Verhaltensmuster nicht gefragt sind.
Hierfür ein Beispiel: Wenn ein Flugzeugtechniker die wichtigsten Teile eines Flugzeuges Dutzende Male prüft und untersucht, bei sengender Hitze ebenso wie bei strömendem Regen, so handelt er korrekt. Schließlich kann eine falsche Entscheidung Hunderte von Menschen das Leben kosten. Prüft hingegen ein Einkäufer Dutzende Male, ob er die neuen Kugelschreiber lieber bei diesem oder jenem Großhändler ordert, so ist dies eher ein Zeichen für mangelnde Entschlusskraft. Das heißt: Das gleiche Verhalten kann eine Stärke und eine Schwäche sein – abhängig davon, in welcher Situation es gezeigt wird.
Diese Zusammenhänge sind vielen Menschen nicht deutlich bewusst. Dann ist ein neutraler Gesprächspartner hilfreich, der ihnen wieder die Augen öffnet – nicht nur für ihre offensichtlichen Stärken, sondern auch für jene Stärken, die sich hinter ihren „Schwächen“ verbergen. Sie erkennen dann: Ihre Schwäche ist im Grunde eine Stärke, die sie nur zur falschen Zeit aktivieren. Das bedeutet: Sie können von ihrer Schwäche profitieren, wenn sie deren starke Seite zum richtigen Zeitpunkt einsetzen.
Ein solches Augen-Öffnen ist schließlich auch deshalb fruchtbar, weil viele Menschen, die häufig gegen dieselben Barrieren stoßen, glauben: Ich muss mich radikal verändern. Bei den Schwächen, die nur übertrieben ausgeprägte Stärken sind, ist dies nicht nötig. Dann genügen kleine Verhaltenskorrekturen, um wieder in die Erfolgsspur zu gelangen.